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« am: Januar 03, 2017, 05:44:14 Vormittag »
Liebe Mikie,
es ist sehr traurig, dass du so unter den Folgen deiner OP zu leiden hast.
Du hast Recht, es ist ein Eingriff in die Selbstbestimmung. Und diesen Eingriff haben wir bewusst vollzogen. Möglicherweise wird unsere Tochter uns dies irgendwann vorwerfen, dann müssen wir ihr unsere Entscheidung erklären, um Entschuldigung bitten, damit klar kommen. Ja, dass kann passieren.
Dennoch haben wir so entschieden. Nicht blauäugig, nicht ohne Reflektion der Wahrscheinlichkeiten.
90% der AGS Mädchen fühlen sich weiblich. Ja das heißt auch, dass 10 % sich anders fühlen. Ich weiß nicht, wie es unserem Kind gehen wird.
Die OP ist erlaubt, das Ergebnis umfangreicher Befragungen und Analysen, ermöglichte diesen Schritt. Genaueres findet man im Internet und "AGS Ethikrat".
Was war nun für uns als Eltern Ausschlag gebend für unsere Entscheidung?
1. Unser Bauchgefühl.
Ja, dies klingt unreflektiert, aber es ist dennoch sehr wichtig. Als ich 3 Tage nach der Geburt unseren kleinen Sohn zu Hause im Arm hatte und ihm liebevoll in das Gesicht sah, ahnte ich noch nichts von AGS. Noch nie hatte ich etwas von dieser Stoffwechselerkrankung gehört. Und noch nie hatte ich mir ersthaft über das Thema Geschlechterverständnis... Gedanken gemacht. So hatte ich meinen Sohn im Arm. Er hatte einen typisch männlichen Namen hat einen großen Bruder, alles schien gut. Aber ich sah in dieses kleine Gesichtchen und fing an mich zu wundern. In meinem Kopf fing ich an zu sprechen: "Komisch, du siehst aus wie ein Mädchen. Du hast ein Gesicht wie ein Mädchen. Komisch. Mmmm. Weist du L. , wenn du groß bist, mach einfach was du möchtest. Wenn du ein Mädchen im männlichen Körper bist, wer weiß. Du kannst leben wie du willst. Wir haben dich lieb."
Als dann nach einigen Tagen (nach einer schweren SV Krise) die Endokrinologin uns über die Diagnose aufklärte, war es für mich wie eine Befreiung. Nun war das Geheimnis um mein Kind gelüftet. Mein Kind darf so leben, wie es sich fühlt. Es muss nicht als Mädchen im Jungenkörper groß werden.
Du ahnst nicht, wie viele Jahre wir auf Kinder gewartet haben, da ist es uns wirklich egal, ob wir Jungen oder Mädchen bekommen, unsere Kinder sollen glücklich sein.
2. die medizinischen Optionen
Da die Schamlippen ja zusammengewachsen waren, mussten diese sowieso vor der Menstruation geöffnet werden. Also ganz ohne OP geht es nicht.
Vagina und Harnleiter waren verwachsen, also besteht eine Infektionsgefahr wenn Harn in die Vagina gelangt. Dies zu ändern ist naheliegend.
Die stark vergrößerte Klitoris wird heute so operiert, dass die Nerven erhalten werden, das sexuelle Empfinden also nicht eingeschränkt wird.
Hier haben sich einfach die Operationsverfahren weiter entwickelt. Als du vor 20 oder 30 oder noch mehr Jahren operiert wurdest, fehlte es den Ärzten einfach auch noch an Erfahrung. AGS ist ja erst vor ca. 50 Jahren entdeckt worden.
3. die Wahl der operierenden Ärztin
Frau Prof. Dr. Eckold Wolke aus der Uni-Klinik Jena operiert regelmäßig AGS Mädchen. Verfügt also über die notwendige Erfahrung.
Sie ist Mitglied im Ärztebeirat der AGS Patienten- und Elterninitiative und trifft sich immer mal wieder mit inzwischen großen operierten Mädchen und jungen Frauen. So erfährt sie hautnah, wie es ihren Patienten auch nach vielen Jahren geht und stellt sich deren Fragen und Sorgen.
4. jede Entscheidung ist eine Entscheidung
Hätten wir die OP aus Angst einen Fehler zu machen nicht durchführen lassen, so wäre auch dies eine Entscheidung. Ohne Entscheidung geht es nicht. Wir würden unser Kind bewusst, den Fragen und Hänseleien (das bleibt nie aus im späteren Schulleben) aussetzen. Die sich daraus ergebenden psychologischen Folgen sind genauso unkalkulierbar, wie die einer OP.
Alle Eltern müssen eine Entscheidung für oder gegen die OP treffen. Und alle Eltern haben die Aufgabe, diese Entscheidung dem Kind später so zu erklären, dass es dies nachvollziehen kann. Jeder entscheidet nach bestem Wissen und Gewissen - und unter diesem Gedanken, sind beide Entscheidungen gleich berechtigt, neben einander stehend, richtig. Wichtig ist es, die Kinder zu lieben und sie zu lehren, sich selbst anzunehmen.
mama