Wenn also beim Late-onset AGS kei Cortisolmangel vorliegt, woher kommen dann die Androgene?
Die kommen aus der Nebennierenrinde.
Ich werde es im Folgenden versuchen zu erklären.
Grundlagen (wie es funktioniert, wenn alles richtig funktioniert)
1. Im menschlichen Gehirn gibt es eine Art Steuerzentrum, welches
Hypothalamus heißt (Genaueres siehe
http://de.wikipedia.org/wiki/Hypothalamus). Dort wird unter anderen
CRH (= Corticotropin-releasing hormone = Corticoliberin, siehe
http://de.wikipedia.org/wiki/Corticotropin-releasing_Hormone) produziert. Welche Menge gerade produziert wird, hängt von der Tageszeit ab.
2. Am Hypothalamus hängt eine Hormondrüse namens
Hypophyse. Diese besteht aus drei Teilen, die unterschiedliche Aufgaben haben (
http://de.wikipedia.org/wiki/Hypophyse). Im Zusammenhang mit AGS ist nur die Adenohypophyse ( = HVL = Hypophysenvorderlappen, siehe
http://de.wikipedia.org/wiki/Hypophysenvorderlappen) interessant. Ein Teil des CRH kommt bei ihr an und signalisiert ihr damit, daß sie
ACTH (Adrenocorticotrophes Hormon = Adrenocorticotropin, siehe
http://de.wikipedia.org/wiki/ACTH) produzieren soll.
3. Über die Blutbahn gelangt das ACTH zur
Nebennierenrinde (
http://de.wikipedia.org/wiki/Nebennierenrinde#Nebennierenrinde). Diese produziert daraufhin verschiedene Sorten von Hormonen:
3a. Glucocorticoide (
http://de.wikipedia.org/wiki/Glucocorticoide), insbesondere Cortisol (
http://de.wikipedia.org/wiki/Cortisol);3b. Androgene (
http://de.wikipedia.org/wiki/Androgene), insbesondere Androstendion (welches u.a. in Hoden bzw. Eierstöcken zu Testosteron und dann teilweise zu DHT (Dihydrotestosteron) bzw. zu Estradiol umgewandelt wird) und dessen Vorstufe DHEA (Dehydroepiandrosteron);
3c. Mineralcorticoide, insbesondere Aldosteron (
http://de.wikipedia.org/wiki/Aldosteron). Allerdings ist die Aldosteronproduktion weitgehend unabhängig von der Stimulation durch ACTH, da Aldosteron Teil eines anderen Regelkreises (Renin-Angiotensin-Aldosteron-System) ist.
Die Vorläufersubstanz für alle diese Hormone ist das Cholesterol (Cholesterin). Für die Umwandlung werden verschiedene
Enzyme benötigt. In der folgenden (sehr wichtigen) Graphik sind diese als Balken dargestellt:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Steroidogenesis.svg4. Eines der Zwischenprodukte ist das
Progesteron, ein anderes das
17-Hydroxyprogesteron (17-OHP, siehe gelber Bereich). Die Pfeile geben Aufschluß darüber, was daraus werden kann:
4a. Das Enzym
21-Hydroxylase wandelt den größten Teil des Progesterons in Desoxycorticosteron (DOC, Vorläuferstubstanz von Corticosteron, welches wiederum eine Vorläufersubstanz für Aldosteron ist) und den größten Teil des 17-OHP in 11-Desoxycortisol (Vorläufersubstanz von Cortisol) um.
4b. Ein sehr viel kleinerer Teil des 17-OHP wird von anderen Enzymen in Androstendion umgewandelt (s.o. 3b.).
Die in der Nebennierenrinde produzierten Hormone werden ins Blut abgegeben.
5. Ein Teil des Cortisols kommt beim Hypothalamus (siehe 1.) an. Dort findet eine Art Abgleich statt: Ist der Cortisolspiegel so, wie er zu diesem Zeitpunkt und diesem Streßpegel sein sollte?
5a. Falls ja, unterbricht der Hypothalamus die Produktion von CRH, die Hypophyse daraufhin die Produktion von ACTH und die Nebennierenrinde die Produktion von Cortisol und Androgenen. Dieser Mechanismus wird als
negative Rückkopplung bezeichnet.
5b. Falls nein, produzieren der Hypothalamus weiterhin CRH, die Hypophyse weiterhin ACTH und die Nebennierenrinde weiterhin die o.g. Hormone. Dies geschieht so lange, bis der Hypothalamus den Cortisolspiegel für hoch genug hält – und zwar bereits im Mutterleib.
Mögliche AbweichungenEs gibt drei Enzymdefekte, die zur Symptomatik eines Adrenogenitalen Syndroms führen können (anhand der oben verlinkten Graphik nachvollziehbar):
A. Defekt der 3β-HSD (3β-Hydroxysteroiddehydrogenase): extrem selten, zieht laut Literatur immer ein schweres AGS mit Salzverlust nach sich);
B.
Defekt der 21-Hydroxylase: mit großem Abstand häufigste Ursache für ein AGS, je nach Ausprägung des Defekts Late-onset AGS, klassisches (einfaches) AGS oder AGS mit Salzverlust;
C. Defekt der 11β-Hydroxylase: zweithäufigste Ursache für ein AGS, führt i.d.R. zu einem AGS mit Salzverlust.
Die Defekte sind genetisch bedingt (vererbt oder Spontanmutation).
Rechenbeispiel mit fiktiven Zahlen (zur Verdeutlichung, vereinfacht)
Es seien drei Personen X, Y und Z. Bei X funktioniert die 21-Hydroxylase so, wie sie soll. Bei Y funktioniert sie nur zur Hälfte und bei Z gar nicht.
Angenommen, die Personen seien einander ansonsten recht ähnlich und der Hypothalamus einer jeden Person erwarte einen Cortisolwert von 100 Einheiten. Um das zu erreichen, produziert er 10 CRH. Die Hypophyse einer jeden der drei Personen reagiert auf die 10 Einheiten CRH mit der Produktion von 20 Einheiten ACTH.
Bei Person X reagiert die Nebennierenrinde auf die 20 ACTH mit der Produktion von von 100 Cortisol und 5 Androstendion. Die 100 Cortisol kommen beim Hypothalamus an, dieser ist zufrieden und stellt die Produktion von CRH ein. Person X hat somit
kein AGS.
Auch
bei Person Y kommen die 20 Einheiten ACTH in der Nebennierenrinde an. Wegen des Enzymdefekts können jedoch nur 50 statt 100 Einheiten Cortisol hergestellt werden. Es bleibt 17-OHP übrig, und ein Teil davon wird von anderen Enzymen in Androstendion umgewandelt. Der Rest verbleibt in der Nebennierenrinde (wo er sich anreichert) bzw. im Blut. Insgesamt liefert die Nebennierenrinde von Y 50 Einheiten Cortisol und 15 Einheiten Androstendion. Mit dem Androstendion kann der Hypothalamus nichts anfangen, da er sich nur für das Cortisol interessiert. Die 50 Einheiten sind ihm zu wenig. Also produziert er nochmals CRH, und zwar 5 Einheiten. Die Hypophyse reagiert darauf mit der Produktion von 10 Einheiten ACTH. Diese sollten die Nebennierenrinde eigentlich zur Produktion von 50 Einheiten Cortisol anregen. Wegen des Enzymdefekts schafft sie jedoch wieder nur die Hälfte davon (25 Einheiten). Es bleibt wieder 17-OHP übrig, welches teilweise in Androstendion umgewandelt wird. insgesamt werden 25 Einheiten Cortisol und 7,5 Einheiten Androstendion produziert. Dem Hypothalamus sind das immer noch 25 Einheiten Cortisol zu wenig. Er produziert 2,5 Einheiten CRH, die Hypophyse daraufhin 5 Einheiten ACTH, die Nebennierenrinde folglich 12,5 Einheiten Cortisol sowie 3,75 Einheiten Androstendion. Bis hierhin wurden insgesamt 75 statt 100 Einheiten Cortisol und 26,25 statt 5 Androstendion hergestellt. Person Y hat ein
Late-onset AGS. Das Ganze setzt sich noch so lange fort, bis die gewünschten 100 Einheiten Cortisol endlich vorhanden sind. In diesem Rechenbeispiel ist das zwar theoretisch nie der Fall, in Wirklichkeit jedoch durchaus.
Die Nebennierenrinde produziert zum Ausgleich nämlich mehr 21-Hydroxylase (von der natürlich wieder ein Teil, also in diesem Beispiel die Hälfte, defekt ist). Der Cortisolspiegel von Late-onset-Patienten ist daher normal (bzw. bei Streß auch erhöht, wobei diese streßbedingte Erhöhung bei einigen Betroffenen geringer ausfallen kann als bei Personen ohne den Enzymdefekt, wodurch sie möglicherweise [d.h. dies ist spekulativ!] weniger streßresistent sind),
allerdings um den "Preis" des stark erhöhten Androstendionspiegels. Wegen des überschüssigen, in der Nebennierenrinde eingelagerten 17-OHP sowie wegen der zusätzlich produzierten 21-Hydroxylase ist die Nebennierenrinde leicht vergrößert.
Bei
Person Z sieht es ganz schlecht aus. Wegen des vollständigen Ausfalls der 21-Hydroxylase werden 0 statt 100 Einheiten Cortisol und 20 statt 5 Einheiten Androstendion produziert. Der Hypothalamus stellt also nochmals 10 Einheiten CRH her, die Hypophyse nochmals 20 Einheiten ACTH. Die Nebennierenrinde reagiert darauf mit der Produktion von weiteren 0 Einheiten Cortisol und 20 Einheiten Androstendion usw. Theoretisch müßte die Produktion von CRH, ACTH und Androstendion nun bis ins Unendliche steigen, praktisch ist dies jedoch nicht der Fall: Sowohl Hypothalamus als auch Hypophyse als auch Nebennierenrinde kommen irgendwann an ihre Grenzen. Deshalb findet sich bei Person Z zusätzlich zu der ausgeprägten Vermännlichung und der deutlich vergrößerten Nebennierenrinde (welche auch der Grund dafür ist, daß das AGS im englischsprachigen Raum Congenital Adrenogenital Hyperplasia (CAH) = Angeborene Nebennierenrindenhyperplasie (Hyperplasie = Vergrößerung) heißt) auch die Symptomatik eines Morbus Addison (
http://de.wikipedia.org/wiki/Morbus_Addison). Person Z hat ein
AGS mit Salzverlust und kann ohne Substitution der fehlenden Hormone nicht überleben.
Wirkungen der SubstitutionstherapieDie Einnahme eines Glucocorticoids bedeutet nicht nur einen Ersatz, sondern bewirkt auch, daß der Hypothalamus "zufriedener" ist und kein oder weniger CRH herstellt, die Hypophyse kein oder weniger ACTH herstellt und die Nebennierenrinde somit ganz oder teilweise "ruhiggestellt" wird, d.h. die Nebennierenrinde produziert somit weniger überschüssiges Androstendion oder gar keines mehr. Der "Preis" dafür ist die Abhängigkeit von dem Glucocorticoid.
Beim klassischen AGS gibt keine Alternative zu dieser Abhängigkeit: Die Nebennierenrindeninsuffizienz – und damit die Abhängigkeit von dem Glucocorticoid – besteht so oder so. Beim Late-onset AGS ohne Corticoidsubstitution hingegen besitzt die Nebennierenrinde noch die Fähigkeit, das benötigte Cortisol selbst herzustellen.
Möglichkeiten der Behandlung eines Late-onset AGS:1) Alles so lassen, wie es ist. Bei Männern mit Late-onset AGS ist dies die Regel, da die leicht erhöhten Androgene und deren Wirkungen kaum oder gar nicht auffallen. Jedoch gibt es auch viele Frauen, die trotz erhöhter Androgenwerte keine Symptome haben oder sich an der vermehrten Körperbehaarung nicht stören (oder denen es genügt, sich zu rasieren) und keinen Kinderwunsch haben.
2) Man läßt die Nebennierenrinde in Ruhe und
bekämpft die erhöhten Androgenwerte mit anderen Mitteln, d.h. mit antiandrogen wirkenden Medikamenten. Hierzu werden meist
Ovulationshemmer ("Pille") mit antiandrogen wirkender Gestagenkomponente (von zahlreichen synthetischen Gestagenen haben insgesamt 4 eine antiandrogene Wirkung, darunter
Cyproteron) verwendet. Die 4 auf dem Markt befindlichen antiandrogenen Medikamente ohne Gestagenwirkung sind bisher nur für Männer zugelassen, eine Verordnung von z.B.
Finasterid an Frauen deshalb off label (wird nur von wenigen Ärzten gemacht, Medikament muß dann i.d.R. selbst bezahlt werden). Außerdem gibt es das Diuretikum
Spironolacton, welches eine antiandrogene Nebenwirkung hat (
http://en.wikipedia.org/wiki/Spironolactone). Wegen
anderer Nebenwirkungen wird es allerdings i.d.R. schlecht vertragen.
3) Wenn
kein Kinderwunsch besteht, wird eine Therapie wie in 2) durchgeführt. Bei
Kinderwunsch erfolgt jedoch statt dessen eine Corticoidsubstitution erfolgen, damit ein Eisprung stattfinden kann und das Risiko für eine Fehlgeburt minimiert wird. (Frauen mit Late-onset AGS, die während der Schwangerschaft keine Corticoidsubstitution durchführen, haben ein drastisch Erhöhtes Risiko für eine Fehlgeburt.) Hierfür wird i.d.R.
Hydrocortison verwendet, da es nicht plazentagängig ist. (Es soll ja nur die Produktion der eigenen Nebennierenrinde unterdrückt werden und nicht die des Fötus (außer im Falle der pränatalen Dexamethasontherapie bei 25%igem Risiko für ein AGS).) Nach der Geburt wird die Corticoiddosis dann langsam wieder reduziert, das Corticoid schließlich abgesetzt und gleichzeitg wieder die "Pille" genommen. Diese Vorgehensweise hat den Vorteil, daß die Abhängigkeit von dem Corticoid nur zeitweise besteht. Allerdings haben die "Pillen" häufig nicht die gewünschte Wirkung, nicht tolerierbare Nebenwirkungen oder dürfen z.B. wegen des Thromboserisikos nicht genommen werden.
4) Corticoidsubstitution. Hierfür kann außer
Hydrocortison auch ein anderes Glucocorticoid verwendet werden, z.B.
Prednison/ Prednisolon (Einnahme nur 2x pro Tag nötig) oder
Dexamethason (Einnahme nur 1x in 1-2 Tagen nötig). Jeder dieser Wirkstoffe hat Vor- und Nachteile. Beispielsweise schwankt beim
Hydrocortison wegen der kurzen Halbwertszeit der Spiegel auch dann stark, wenn die Dosis auf 4 Einzeldosen pro Tag verteilt wird.
Dexamethason hingegen neigt wegen seiner langen Halbwertszeit zur Kumulation (Anhäufung/ Anreicherung), und feine Dosisabstufungen sind nicht möglich, wodurch das Risiko für ein Cushing-Syndrom (
http://de.wikipedia.org/wiki/Cushing-Syndrom) sehr hoch ist. Ein Nachteil aller Wirkstoffe ist die Tatsache, daß der
Tagesrhythmus der körpereigenen Cortisolproduktion damit nur sehr unzureichend nachgeahmt werden kann. Ein gravierender Nachteil der Corticoidsubstitution insgesamt ist die A
bhängigkeit von dem Medikament; es kann nicht einfach abgesetzt werden, ohne daß es zu körperlichen Entzugserscheinungen bis hin zur Addison-Krise kommt. Eine Magen-Darm-Infektion kann somit schnell lebensgefährlich werden. In vielen Fällen (vor allem wenn die Eigenproduktion von Cortisol nicht nur teilweise, sondern vollständig unterdrückt wird) ist das Mitführen eines
Corticoidausweises nötig. Außerdem sind die durch die Corticoidsubstitution normalisierten Androgenwerte
keineswegs eine Garantie dafür, daß die Körperbehaarung zurückgeht bzw. durch Androgene bedingter Haarausfall gänzlich gestoppt wird! Ein Rückgang der Behaarung zeigt sich frühestens nach 2 Jahren, manchmal auch gar nicht. Der Haarausfall geht zwar i.d.R. sehr viel schneller zurück als die Körperbehaarung, aber ein Wunder sollte man auch da nicht erwarten.
5) Corticoidsubstitution + Einnahme einer "Pille" mit antiandrogener Gestagenkomponente oder Einnahme von Spironolacton oder eines sonstigen Antiandrogens (off label, s.o.).
Bei 1) bis 5) können
zusätzlich zum Einsatz kommen: Rasieren, Enthaarungscreme, Epilation, dauerhafte Haarentfernung (mittels IPL, Laser oder Elektroepilation),
Vaniqua (Creme mit dem Wirkstoff
Eflornithin, die im Gesicht aufgetragen wird, um das Haarwachstum zu unterdrücken), äußerliche Anwendung von
Minoxidil (
Regaine, zur Bekämpfung des Haarausfalls), Haarstransplantation, Perücke, Pflegeprodukte für fettige Haare/ Haut, Mittel gegen Akne.
... All diese Dinge werden auch immer auf unseren Kongressen (1x jährlich, dieses Jahr im September in Berlin) und Frauentreffen (für das diesjährige keine Anmeldung mehr möglich, nächstes voraussichtlich 2015) thematisiert, sowohl in Vorträgen von Experten und Fragerunden mit Experten als auch in Betroffenen-Gesprächsgruppen. Außerdem steht ein Großteil dessen, was ich hier geschrieben habe, auch in unseren Broschüren.
An den Kongressen dürfen auch Betroffene teilnehmen, die keine Mitglieder der AGS-Initiative sind. Selbiges gilt für das Anfordern der Broschüren. Neue Mitglieder sind jedoch jederzeit herzlich willkommen!
www.ags-initiative.deIch könnte jetzt auch noch etwas zum Thema "Late-onset AGS bei Überträgern eines klassischen AGS", d.h. bei heterozygotem Enzymdefekt, schreiben... Jedoch ist die Wissenschaft diesbezüglich erst am Anfang. Die meisten Endokrinologen wollen nichts davon wissen und gehen weiterhin von streng rezessiver Vererbung aus, während Genetiker (und viele Betroffene...) das inzwischen anders sehen.
Im Late-onset-Forum (
http://240296.forumromanum.com/member/forum/forum.php?action=ubb_tindex&USER=user_240296&threadid=2) habe ich bereits in einzelnen Beiträgen etwas dazu geschrieben. Ansonsten kann ich es bei Interesse auch gerne nochmals erklären.
Viele Grüße,
Braunauge